Tanz der Gedanken
Es war einmal ein junger Mensch namens Lio, der lebte in einem kleinen Häuschen am Rand eines Waldes, dort, wo der Wind in den Zweigen flüstert und die Sterne besonders hell leuchten. Doch so klar der Himmel über seinem Dach auch war – in seinem Kopf tobte Nacht für Nacht ein Sturm.
Immer wenn die Uhr Mitternacht schlug, erwachten sie: die Gedanken. Sie kamen nicht leise und freundlich. Nein – sie wirbelten wild umher, wie ein Schwarm tanzender Schatten mit glühenden Augen. Sie forderten mehr Zeit, mehr Raum, schrien nach Antworten auf Fragen, die Lio nicht mal gestellt hatte.
„Warum hast du das nicht besser gemacht?“
„Was, wenn morgen alles schief läuft?“
„Du hättest doch… du solltest doch…!“
Lio lag wach, die Decke bis unters Kinn gezogen, das Herz wie eine Trommel, der Kopf wie ein Karussell. „Hört auf“, flüsterte Lio. „Ich bin müde…“
Doch die Gedanken lachten nur. „Wir tanzen, solange du uns lässt!“
In dieser Nacht, als der Mond besonders rund und silbern war, beschloss Lio, dem Tanz ein Ende zu setzen – oder zumindest seinen Rhythmus zu verstehen.
Lio stand auf, ging barfuß in den Garten und setzte sich unter die große, alte Linde. Da erschien – fast lautlos – ein Wesen. Es war halb Wind, halb Licht, mit einem Gesicht, das sich ständig veränderte: mal Lios Mutter, dann ein Lehrer aus der Schulzeit, dann ein Spiegelbild mit müden Augen.
„Wer bist du?“, fragte Lio.
„Ich bin der Gedankentänzer“, sprach das Wesen sanft. „Ich bin, was du denkst, wenn du nicht schlafen kannst. Aber ich bin nicht dein Feind. Ich tanze nur, weil du mich nicht führen willst.“
„Wie soll ich das tun?“, fragte Lio.
Das Wesen lächelte. „Indem du nicht mit mir kämpfst. Du kannst mich beobachten. Mir einen Namen geben. Mich zeichnen, aufschreiben, aussprechen. Ich werde dich nicht verlassen – aber ich kann dich begleiten, ohne dich zu erschöpfen.“
Lio nickte langsam. Und als der Morgen kam, lag ein Notizbuch auf dem Nachttisch – und darin tanzten Gedanken in stillen Worten, nicht mehr kreisend im Kopf, sondern auf Papier.
Und so geschah es, dass Lio von Nacht zu Nacht ein bisschen ruhiger schlief. Denn wer den Tanz der Gedanken erkennt und ihm zuhört, der lernt mit der Zeit, mitzutanzen – ganz ohne sich zu verlieren.