Brücken bauen
In jenem Land, in dem auch der Prinz, die Prinzessin und der Kaufmann lebten, flossen über Jahrzehnte Milch und Honig. Die Felder waren fruchtbar, die Händler brachten Waren aus aller Welt, und die Menschen lachten viel und sorgten sich wenig. Alle Bürger dachten, es werde so weitergehen bis ans Ende aller Tage. Und so lebten sie herrlich und in Freuden.
Auch die Regenten – ein Rat aus weisen Frauen und klugen Männern, so glaubte man – dachten wenig über die Zukunft nach. Sie schlemmten, sie tanzten, und sie veranstalteten große Feste, nicht nur im eigenen Land, sondern auch in fernen Königreichen. Überall rühmte man sie – doch sie vergaßen dabei ganz ihr eigenes Volk.
Denn je mehr gefeiert wurde, desto weniger wurde gearbeitet. Die Werkstätten standen leer, die Felder wuchsen wild, und niemand wollte mehr den Dreck von den Straßen fegen oder die Dächer neu decken. Und so kam es, dass die einst blühenden Städte langsam verfielen.
Eines Tages riefen die Bürger: „Wir kommen mit unseren Kutschen nicht mehr voran, weil überall Löcher in den Straßen sind. Und wir trauen uns nicht mehr über die Brücken. Die sind so baufällig, die könnten einstürzen.“
Doch als sie dies den Regenten vorbrachten, zuckten diese nur mit den Schultern. „Wir dachten, es ginge euch gut. Haben wir euch nicht Feste gegeben und Musik und Wein?“ Aber die Bürger waren enttäuscht – und sie wurden zornig.
Sie begannen zu diskutieren, zunächst in kleinen Gruppen, dann auf großen Versammlungen. Bald stritten sie heftig: Die einen sagten, es seien die Regenten schuld. Die anderen sagten, jeder sei selbst verantwortlich. Einige forderten neue Gesetze, andere wollten alte zurück. Es bildeten sich zwei große Lager, und sie standen sich feindselig gegenüber. Man sprach nicht mehr miteinander, man sprach nur noch übereinander. Und fast wäre ein Bürgerkrieg ausgebrochen.
Doch da trat ein alter Mann auf den Marktplatz. Seine Haare waren grau wie der Morgennebel, und seine Stimme war ruhig wie ein Bachlauf im Frühling. Er sagte:
„Große Projekte beginnen im Kopf. Lasst uns dort zuerst Brücken bauen – von Herz zu Herz, von Ohr zu Ohr. Denn wer nur schreit, hört nicht. Und wer nicht hört, kann nicht verstehen.“
Zunächst wurde gelacht, dann geschwiegen – und schließlich zugehört.
So begannen die Menschen, einander wieder zuzuhören. Die einen lernten, dass das Fest ohne Arbeit leer ist. Die anderen erkannten, dass Pflichterfüllung ohne Freude hart macht. Sie setzten sich zusammen, erzählten von ihren Hoffnungen und Sorgen. Und langsam, ganz langsam entstanden erste Pläne. Nicht aus Zwang, sondern aus Einsicht.
Zuerst bauten sie also die Brücken in ihren Köpfen – aus Verständnis, Achtung und gemeinsamer Vision. Dann begannen sie, die echten Brücken zu reparieren, die Straßen zu pflastern, die Dächer zu decken.
Und siehe da: Das Land blühte wieder auf. Anders als zuvor, weniger glänzend vielleicht, aber dafür echter, stärker, gemeinsamer.
Und von da an vergaßen sie nie wieder, dass das Fundament eines Landes nicht aus Gold besteht – sondern aus Vertrauen.
Zu diesem Märchen findest Du den passenden Song auf dem Album Edelstein von Kahl P , das auf allen bekannten Plattformen verfügbar ist - hier der Link zu Youtube