Morgen ist ein Schuft
Es war einmal ein kleines, graues Königreich, in dem die Sonne selten schien und die Uhren langsamer schlugen als anderswo. Die Menschen dort hatten sich angewöhnt, ihre Freude aufzuschieben. Sie sagten:
„Morgen werde ich tanzen.“
„Morgen werde ich singen.“
„Morgen werde ich glücklich sein.“
Und so vergingen die Tage, einer nach dem anderen, alle gleich bleiern und schwer.
In diesem Land lebte auch ein junger Mann namens Jorin. Jorin war ein Denker. Einer, der viel grübelte, wenig lachte und oft mit sich selbst sprach. Er hatte eine lange Liste an Plänen, die alle mit den Worten begannen: „Morgen werde ich…“
Eines Abends, als der Himmel besonders düster war, klopfte es an Jorins Tür. Davor stand ein seltsamer, alter Mann in einem leuchtend roten Umhang. Er hatte funkelnde Augen und ein Lächeln, das Jorin gleichzeitig irritierte und faszinierte.
„Ich bin der Bote des Jetzt“, sagte der Mann. „Ich reise durch die Königreiche und sammle verlorene Abende. Und ich glaube, du schuldest mir bereits einige.“
Jorin runzelte die Stirn. „Ich habe keine Zeit. Ich muss nachdenken. Vielleicht morgen.“
Der Alte lachte. „Ach, das sagen sie alle. Aber weißt du: Morgen ist ein Schuft. Er nimmt all deine Pläne und Träume und schiebt sie einfach weiter – auf den nächsten Tag, und den nächsten. Er kommt nie wirklich an.“
„Und was schlägst du vor?“, fragte Jorin.
„Ich schlage vor: Du tanzt. Jetzt. Du lachst. Jetzt. Du hörst auf, zu klagen. Heute. Und wenn deine Sorgen dich rufen – dann sag ihnen einfach: ‚Wartet bis morgen.‘“
Mit diesen Worten reichte er Jorin eine kleine Laterne. In ihr flackerte ein winziges Licht. „Das ist der Funke des Moments. Wenn du ihn pflegst, wird daraus ein Feuer.“
Jorin überlegte. Und dieses Mal entschied er sich nicht zu warten. Er ging hinaus in die Nacht, zündete ein kleines Lagerfeuer an und spielte ein Lied auf seiner alten Gitarre, die längst verstaubt in der Ecke gelegen hatte. Menschen kamen dazu. Sie lachten, sangen, erzählten sich Geschichten – im Jetzt.
Und siehe da: Das graue Königreich wurde ein kleines bisschen heller.
Denn jeder, der lernte, das Morgen warten zu lassen, entdeckte, dass heute viel mehr zu bieten hatte, als man dachte.
Und die Moral von der Geschicht’:
Warte nicht mit dem Leben – denn morgen ist fürs Heute zu spät.
Zu diesem Märchen findest Du den passenden Song auf dem Album Edelstein von Kahl P , das auf allen bekannten Plattformen verfügbar ist - hier der Link zu YouTube